Reto Seiler, Redaktion «Hit & Roll»


Vom ersten Stein bis zum vorletzten End: Mario Flückiger im Interview über Anfänge, Erfolge und den Moment, als die Familie wichtiger wurde.

 

Lieber Mario, wann und wie bist Du zum Curling gekommen?

Wenn ich mich richtig erinnere, 1965, während der Familienferien in Adelboden. Auf den Skipisten lag nicht genügend Schnee, und durch Freunde meiner Eltern bot sich als Alternativprogramm Curling auf der Schlittschuhbahn an. Als «Grüfi», wie die Adelbodner sagen, sind mein Bruder Silvano und ich dann auf die Curlingsteine gesprungen und haben die Fahrt, am Händel haltend, genossen. Heute würde man dafür wahrscheinlich gesteinigt. =)

 

Was hat dich am Curling fasziniert, weshalb hat es Dich «gepackt»?

Tja, es ist einfach passiert. Zuerst bei Wind und Regen mit den Gummihalterbesen den Schnee weggeräumt, damit die Eltern den nächsten Stein spielen konnten; später, etwas grösser geworden, durfte ich endlich auch probieren, Steinen zu spielen, und dann kam die Freude, wenn die Steine aneinander knallten. Dieses spezielle Geräusch des Aufpralls verlangte nach mehr, und plötzlich wurde es zur «Sucht»!

 

Vor genau 40 Jahren wurdest Du für den CC Olten mit Skip Markus Känzig Schweizermeister. Welche Erinnerungen daran sind geblieben?  

Das ist schon 40 Jahre her? Wahnsinn!  Das war wirklich speziell: Nach der Round Robin waren sechs Teams punktgleich, und es ging darum, wer in den Halbfinal einzieht und wer Tie-Breaks spielen muss. Der Spielleitung traf einen Fehlentscheid und setzte das Team von Zürich Crystal mit Skip Otto Danieli direkt für den Halbfinal und bestätigte den Entscheid dem Team so. Danach kam unser Second, «Professor Dr. Rolf Walser», und zeigte dem Verband auf, wie das Reglement zu deuten sei. Der Verband musste darauf Otto Danieli mitteilen, dass die erste Mitteilung ein Fehlentscheid war – worauf er sich mit seinem Team aus Protest zurückzog. Somit waren nur noch fünf Teams Anwärter auf den Meistertitel. Es wurde dann über ein Tie-Break und Punktespiele ermittelt, wer in den Halbfinals spielt. Mein Bruder Silvano legte im Punktspiel den Stein auf den «100er», sodass man, wenn man den Händel abschraubte, direkt das Loch fürs Messgerät sah. Im Halbfinal spielten dann Lausanne-Riviera (Tanner) gegen Stäfa (Luchsinger) und Dübendorf (Attinger) gegen uns. Anders als erwartet lautete der Final Stäfa gegen uns, und wir konnten diesen – ebenfalls wider Erwarten – für uns entscheiden.

 

Ihr hattet In dieser Zeit lauter namhafte Konkurrenten und konntet euch trotzdem durchsetzen. Was war eure Stärke, eure «Superpower»?

Wahrscheinlich lag es hauptsächlich am Eis, das lag uns einfach besser. Es curlte nicht so stark und das war unser Vorteil. Zur Erinnerung: Damals gabe es noch keine «Free Guard Zone», man konnte einfach alles wegspielen; hinter die Guards kam man nur mit Wicken, das konnten wir gut; und da es wenig curlte, kamen die Gegner nicht mehr an unsere versteckten Steine.

 

Was habt ihr damals für einen Aufwand betrieben, sowohl zeitlich wie finanziell?

Unser Aufwand war ein komplett anderer, als heute betrieben wird. Da wir alle an verschiedenen Ort lebten, mussten wir individuell trainieren, und taten das so: Wir gingen alle normal arbeiten, machten aber entweder keine Mittagspause, um am Abend nach der Arbeit zu trainieren, oder – falls wir eine Mittagspause einlegten – verbrachten wir diese auf dem Eis. So machten wir das zwei- bis dreimal pro Woche. Das eigentliche Teamtraining waren die Turniere an den Wochenenden.

 

An der Weltmeisterschaft 1985 in Glasgow fehlte nur ein Sieg für die Halbfinalqualifikation. Wie habt ihr die WM erlebt, war es ein Erfolg? Oder war die verpasste Medaille eine Enttäuschung?

Als Sportler willst Du immer gewinnen, also war es schlussendlich eine Enttäuschung. Wir sind damals vermutlich an der Unerfahrenheit gescheitert. Das erste Spiel konnten wir gegen Schweden gewinnen und waren somit eigentlich gut ins Turnier gestartet. Im zweiten Spiel hatten die Organisatoren vergessen, die Scheinwerfer auszuschalten, und so waren zu Beginn des Spieles Verhältnisse wie beim Open-Air. Ich brachte meine Steine kaum über die Hogline, ins Haus schon gar nicht. Das brachte uns völlig aus dem Konzept und wir verloren gegen (den damaligen Aussenseiter) Dänemark klar. Auf dem Nebenrink lag Deutschland mit Skip Keith Wendorf zur Pause 0:5 zurück. Obwohl nach dem 5. End die gewohnten Eisverhältnisse zurückkehrten, warf Wendorf nach dem 6. End den Besen hin, da er keine Chance mehr sah, gewinnen zu können. Solche «Auswüchse» führten letztlich dazu, dass die «Free Guard Zone» eingeführt wurde.

 

1988 wurde Curling nach langer Pause wieder ins Olympische Programm aufgenommen, damals noch als Demonstrationswettbewerb. Du durftest mit dem Team von Hansjörg Lips als Ersatz mit nach Calgary fahren. Wie kam es dazu?

Ich kannte Enrico Simen sel. und Stephan Luder sehr gut, wir hatten nebenbei ein paar Plausch-Turniere miteinander gespielt, so beispielsweise das Hasenturnier an Ostern in Wengen. Wir hatten es lustig und feierten, es hat einfach alles «gestimmt» – und so kam ich ins «Olympia-Team».

 

Ihr habt damals die Round Robin gewonnen und euch direkt für den Final qualifiziert. Dieser ging zwar verloren, trotzdem habt ihr Silber gewonnen. Gab es eine Medaille?

Ja, es gab eine Medaille, jedoch gegenüber dem Original ein bisschen abgeändert. Auf der einen Seite waren, wie beim Original, die überlappenden Indianerköpfe drauf, und auf der Rückseite die fünf Demonstrationssportarten wie Shorttrack, Skiakrobatik und eben: Curling.

 

War es nicht auch etwas bitter, an den Olympischen Spielen auf dem Podest zu stehen, und trotzdem zählte es nicht «richtig»?  

Das war uns nicht wichtig. Es war toll, dabei gewesen zu sein. Für die Demostrationsportarten wurde sowieso ein separates Camp aufgetan, wir waren nicht im Olympischen Dorf. Es war aber alles so weitläufig, dass man das gar nicht besonders bemerkte. Weil die Skifahrer in weiter Distanz wohnten, mussten sie auf die Eröffnungsfeier verzichten – und wir konnten als glückliche Lückenbüsser beim Einmarsch dabei sein!

 

Für Dich und «Team Känzig» ging es erfolgreich weiter, ihr habt euch 1989 und 1990 hintereinander für die Europameisterschaft qualifiziert. An beiden Turnieren seid ihr unter den Erwartungen und ohne Medaille geblieben. Wäre nicht mehr drin gewesen?

Jetzt sind wir genau an dem Punkt, wo unser Dilemma angefangen hat. Der Beruf, respektive die berufliche Karriere, die Familie, die begrenzte Zeit – und eine Sportart, bei der man nichts verdient. Wir haben auf internationalem Niveau gespielt, und wir hatten schliesslich einfach Freude am Spiel. Es war das Beste, was man bei einer reinen «Freizeitbeschäftigung» erreichen konnte.

Aufgrund der EM in Engelberg und Lillehammer gingen wir über die Bücher und wussten, mehr Erfolg brauchte mehr Training; viel mehr Training und hartes Training. Mein Bruder Silvano konnte diesen zusätzlichen Aufwand nicht mehr betreiben, mit seinem Kreuzbandriss aus seiner Jugendzeit bei YB hatte er immer wieder Probleme; ausserdem arbeitete er als Staatsanwalt. Rolf Walser war in der Ausbildung zum (Sport-) Arzt, Markus Känzig für drei Jahre beruflich für die Firma Rado in Johannesburg tätig, und ich war als Generalagent für die Versicherungen zuständig. Es wäre also unmöglich gewesen, ehrgeizigere Ziele erreichen zu wollen.

Trotzdem war es nie ganz aus mit dem Team Känzig. Während dieser ganzen Zeit haben wir – mit Unterbrüchen – immer wieder zusammengespielt. Curling war für uns Abwechslung zum Alltag. Es war abwechslungsreich, interessant und wir hatten vor allem Spass.

 

Du und Markus Känzig habt dann doch nochmals in den Meisterschaftsbetrieb eingegriffen … 

Ja, wir hatten uns mit Müku Perret und Chrigu Richter aus Biel neuformiert und noch einige Jahre «mitgemischt». An der Schweizermeisterschaft 1995 sind wir so bis in den Halbfinal gekommen und haben 1996 sogar im Final gespielt. Meine Weggefährten hörten dann aber auf, Meisterschaften zu spielen, und ich widmete mich jungen Talenten wie Stefan Häsler, Philipp Hess und Urs Grossenbacher. In dieser Konstellation erreichten wir immerhin den Final des Perth Masters in Schottland.

 

2010 war dann Schluss mit Spitzensport. Warum genau dann?

Während der Round Robin der Meisterschaft 2010 starb mein Vater. Dies führte dazu, dass ich mehr Zeit mit meiner Frau Michaela und unseren mittlerweile 18-jährigen Sohn Gino verbringen und bewusster geniessen wollte, kurz gesagt: Es war der Augenblick gekommen, die Curlingschuhe wegzuschliessen. Alles hat seine Zeit und es war dann die neue Zeit der Familie gekommen.

 

Du hast dann immer wieder mit alten Weggefährten diverse Turniere gespielt – meistens sehr erfolgreich. War die Senioren-Meisterschaft nie ein Thema?

Senioren-Meisterschaft war nie ein Thema. Ich spielte noch ein paar wenige Turniere, und jetzt habe ich definitiv mit Curling abgeschlossen. Das einzige (und wichtigste Turnier für mich) ist jedes Jahr die PNZ-Trophy im Grabengut in Thun: Einen Tag lang Jassen und Curlen.

 

Verfolgst Du die «Curling-Szene» trotzdem noch?

Selbstverständlich, an EM und WM schaue ich die Spiele im TV. Persönlich bin ich fasziniert von Carole Howald: sie hat eine unheimliche tolle Aura, genau das, was in einem Team nötig ist, um Erfolg zu haben! Und Alina Pätz beeindruckt mich immer wieder: so eine abgebrühte und coole Pokerface-Persönlichkeit, was für eine Ausstrahlung!

 

Rückblickend auf Deine lange Karriere: Was war die Highlights?

Da kommen mir einige in den Sinn: Das WM-Spiel in Glasgow gegen Kanada (mit Skip Al Hackner alias «the Iceman»): Gemäss Statistik spielte ich damals 100%. Überhaupt sind alle internationalen Meisterschaften in bester Erinnerung.

Es gehören aber auch zwei grosse Turnier-Siege im Open-air dazu: Die BOCA in Adelboden und das Jubiläumsturnier 100-Jahre Jackson Cup in St. Moritz.

Auch an die Turniersiege eher geselliger Anlässe erinnere ich mich gerne: So beispielsweise an den Savona Cup in Prag, zusammen mit André Flotron. Oder an die Bavarian Mixed in Oberstdorf oder das Sommerturnier in Cortina d’Ampezzo.

Unvergessen bleibt auch mein allererster Turniergewinn 1972, der Restaurant Bärencup in Adelboden «en famille»!

 

Gibt es noch einen Ratschlag, den Du den jungen, ambitionierten Teams geben kannst?

Immer wieder versuchen, das Training erst zu beenden, wenn Du 8 Steine in Serie im Haus platziert hast (ohne Wischen)! Wer das diszipliniert durchführt, wird zum sicheren «Legehuhn» mit dem nötigen Gefühl für den Stein und die Länge. Der Rest kommt dann von allein.

Die Silbermedaillen-Gewinner von Calgary 1988 mit Mario Flückiger (ganz rechts).

Die Silbermedaillen-Gewinner von Calgary 1988 mit Mario Flückiger (ganz rechts).

 

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